Salzburger Nachrichten, 30. Jänner 1993
Einer stieg die Barrikaden
In den Bergen nahe Rijeka haben es Serben und Kroaten bis heute geschafft, in Frieden miteinander zu leben. Die Region könnte zum Vorbild für das ehemalige Jugoslawien werden.
Die Gewehre mit Zielfernrohr liegen griffbereit im offenen Geländewagen. Männer mit Dreitagesbart und in fester Winterkleidung stapfen in der beginnenden Dämmerung aus den tief verschneiten
Wäldern. Es sind Serben.
Die Atmosphäre ist herzlich. Die Gewehre sind Jagdgewehre, die Männer Holzarbeiter, Jäger und Gemeindepolitiker. Wir befinden uns in einem Serbengebiet mitten in den Bergen Kroatiens. „Wir“, das
sind eine Psychologin aus Zagreb, zwei Kroaten aus einem Nachbardorf, zwei Kärntner und zwei Salzburger.
In einem abgelegenen Forsthaus für serbische Waldarbeiter werden wir willkommen geheißen. Wir essen Rehgulasch mit Polenta, trinken beängstigend viele Runden eines grünlichen Kräuterschnapses und
hören eine Geschichte, die so gar nicht in unser Bild vom Zusammenleben von Serben und Kroaten im ehemaligen Jugoslawien passt.
Ein Jahr zuvor, zur Jahreswende 1991/92, war es hier in Gorski Kotar weniger entspannt gewesen. Da drohte die gebirgige Region südöstlich von Rijeka mit gemischter kroatischer und serbischer
Bevölkerung zu explodieren. Barrikaden zwischen serbischen und kroatischen Dörfern waren errichtet worden. Die Menschen hatten sich bewaffnet. „Viertausend schwer bewaffnete Tschetniks in den
Wäldern von Gorski Kotar“! Diese Angstparole war von kroatischen Nationalisten nahegelegener Städte ausgegeben worden und hatte Wirkung gezeigt. Schließlich war Krieg zwischen Serben und Kroaten,
und das Land voller Angst und Hass.
Die serbischen Dörfer wurden abgeriegelt.
„Es fiel kein Schuss“
Professor Franjo Starcevic ist ein freundlicher und bescheidener älterer Herr. Fährt man mit ihm durch die Dörfer, wird der Kroate von den Menschen freundlich gegrüßt, von Serben und Kroaten.
Viele nennen ihn ihren Freund. Vor Jahren, noch im alten Jugoslawien, hatte der Psychologie-Professor wegen „regimefeindlicher Aktivitäten“ seinen Arbeitsplatz verloren und sich darauf hin nach
Mrcopalj, einem kleinen Zweitausend Einwohner Ort in der Region Gorski Kotar, zurückgezogen.
Als die Spannung am höchsten und das Gespräch zwischen Serben und Kroaten abgebrochen war, als der Funke in der Luft lag, machte sich Starcevic auf seinen Weg über die Barrikaden. Er ging in die
Dörfer mit serbischer Bevölkerung. „Um das zu tun, was wir bisher immer getan haben: Miteinander reden.“
„Mit den Serben redet man nur so“, hatte ihm ein kroatischer Dorfbewohner mit demonstrativ angelegtem Gewehr noch auf den gefährlichen Weg mitgegeben. Misstrauen, Feindschaft, Hass, Angst und
nationalistische Hetzer gab es auf beiden Seiten. Ebenso wie vernünftige Menschen und die Erfahrungen eines jahrhundertelangen friedlichen Zusammenlebens.
Franjo Starcevic brachte die Vertreter von Serben und Kroaten wieder an einen Tisch. Sie redeten miteinander. Die geographische Lage abseits der vorrangigen Erweiterungsgebiete großserbischer
Nationalisten, der lokale Kommandeur der jugoslawischen Armee, der in diesem Militärbezirk keine schweren Waffen zurückgelassen hatte, und die Anwesenheit von drei EG-Beobachtern taten ein
übriges. Das Misstrauen und die Barrikaden wurden abgebaut. In Gorski Kotar fiel kein Schuss!
Auch das Richtige, das zum genau richtigen Zeitpunkt getan wird, muss auf einen aufnahmebreiten Boden fallen. Franjo Starcevics Versuch, im letzten Moment den Ausbruch offener Gewalt zu
verhindern, konnte in Gorski Kotar erfolgreich sein. Hier scheinen die Uhren tatsächlich ein bisschen anders zu gehen.
„Wir sind die besseren!“
Bei allen unseren Gesprächspartnern schwingt Stolz auf die den eigenen Weg und auf die Besonderheit der Region und ihrer Bewohner mit. Einer sagt es unverblümt. „Wir sind die besseren Serben und
die besseren Kroaten.“ Josip Horvat, Ingenieur und Bürgermeister des Bezirkshauptortes Delnice, erklärt die vergleichsweise geringe Resonanz nationalistischer Parolen mit der „vernünftigen,
einfachen und wortkargen Gebirgsmentalität“ der Menschen hier. „Gorski Kotar“, ergänzt Starcevic, „hat keine bedeutenden Krieger hervorgebracht, aber Lyriker und Maler“. Bildung hat hier
Stellenwert. Ein Beispiel: Für graphisch und künstlerisch besonders begabte Kinder wurde eine besondere Betreuung und Förderung gesucht und gefunden. Ein Kunstprofessor der Universität Rijeka
kommt jetzt einmal wöchentlich zu ihnen. Gratis. Bezahlt wird ihm nur der Treibstoff.
Auch Rade Mrvas, einer der Partisanenkommandeure der Region im Zweiten Weltkrieg, Serbe und pensionierter General der jugoslawischen Armee, entspricht nicht dem bei uns entstandenen Bild von
einem serbischen General. Er ist sichtlich betroffen über die Verbrechen in Bosnien. Für ihn ist die Region Gorski Kotar Vorbild und Modell. Seit 400 Jahren, sagt er, würden Serben hier an der
ehemaligen Militärgrenze Österreichs zum osmanischen Einflussgebiet siedeln; immer in Frieden mit den Kroaten. So seien etwa, erzählt Mrvas, die serbischen Waldarbeiter beim katholischen
Weihnachtsfest der Kroaten nicht in den Wald zur Arbeit gegangen, und umgekehrt die Kroaten nicht beim Weihnachtsfest der orthodoxen Serben. „Um gegenseitigen Respekt vor der Kultur und Religion
der anderen zu zeigen.“
Zu Gast beim ehemaligen Partisanenkommandeur sitzt übrigens auch der Trainer des Ski-Klubs von Mrcopalj. Sein Onkel ist von den Partisanen nach dem Krieg erschossen worden. Die beiden können
darüber miteinander reden. „Auch deshalb müssen wir heute den Frieden erhalten.“
Keine Vertreibung
Gorski Kotar dürfte auch die einzige Region Kroatiens sein, aus der bislang keine einzige serbische Familie nach dem Auseinanderfallen Jugoslawiens nach Serbien „abgewandert“ ist. Eine
Abwanderung, die sich sonst überall vollzieht, und die auch Ergebnis von alltäglicher Diskriminierung , von Übergriffen, Drohungen, Rechtsunsicherheit und einem extrem nationalistischen Klima
ist. So berichten uns etwa Oppositionelle aus dem vergleichsweise wenig nationalistischen Rijeka, dass bereits etwa 5.000 der ehemals 20.000 serbischen Bewohner Rijekas weggezogen sind. Dabei
gilt Istrien bis nach Rijeka als die politisch liberalste Region Kroatiens.
In Gorski Kotar hat man andere Probleme. Dort steigt derzeit die Arbeitslosigkeit in den serbischen Dörfern auch deshalb an, weil arbeitslos gewordene Serben, zum Teil ehemalige Landflüchtlinge
aus der Region, aus anderen Gebieten Kroatiens derzeit wieder zurückkommen.
Franjo Starcevic und seine serbischen und kroatischen Freunde machen sich nichts vor. Sie wissen auch um Probleme, Diskriminierungen und gegenseitige Ablehnung. „Nicht alle denken so wie wir.“
Das wenig friedliche Umfeld des gesamten ehemaligen Jugoslawien wirkt natürlich auch nach Gorski Kotar hinein. Wie könnte es anders sein? Trotzdem und gerade deshalb meinen sie aber auch, dass
Gorski Kotar ein Beispiel für das ehemalige Jugoslawien geben könnte.
Die Botschaft „Frieden ist möglich, verschiedene Volksgruppen können mit- und nebeneinander leben“ braucht das Land. Sie sollte Kreise ziehen. Nationalisten aller Seiten haben bisher mit Erfolg
die Verbreitung dieser Botschaft verhindert.
Eine herzliche Einladung
Gerade deshalb werden auch ganz bewusst Anstrengungen unternommen, gemeinsame und verbindende Traditionen der Region zu pflegen. Eine davon ist das „Memorijal Mira“, ein zweitägiges
Wintersportfest, das ursprünglich als Erinnerung an 28 in den Wäldern erfrorene Partisanen begangen wurde. Franjo Starcevic hat dem Fest einen neuen Inhalt gegeben. Die Erhaltung des Friedens
zwischen den Volksgruppen.
Das Fest wird am 20. und 21. Februar in Mrcopalj stattfinden. Höhepunkt wird ein Schilanglauf-Marathon am 21. Februar sein. Sportler und Hobbyläufer nehmen daran teil. Die Distanzen sind
abgestuft: 10, 21 oder 42 Kilometer, je nach Lust, Kondition und Können.
Früher nahmen Sportler aus ganz Jugoslawien am Marathon teil, in den letzten Jahren „nur“ noch aus Kroatien. Die Veranstalter würden gerne Sportler und Hobbyteilnehmer, insbesondere aus dem
gesamten Alpen-Adria Raum, begrüßen. Marijan Petrovic, Trainer des Schiklubs von Mrcopalj, würde sich über eine Salzburger Delegation freuen. Die Einladung ist herzlich und echt.
Eine kleine Delegation könnte der Beginn einer Freundschaft werden.