Freitag, 7. Juli 2000


von Heinrich Breidenbach

Freie Fahrt für Terroristen?

Gesetzt den Fall, irgendeine andere Gruppe verursachte Tag für Tag so viele Tote und Verletzte wie die Autoraser…

Nur als Gedankenexperiment: Was würde wohl passieren, wenn irgendeine Terrorgruppe Tag für Tag in Österreich Tote, Verletzte und Sachschäden in Millionenhöhe verursachen würde? Es ist ein Grauen, sich das auszumalen. Der Rechtsstaat wäre schnell aus den Angeln gehoben. Das Land wäre eine finstere Diktatur, ein Polizeistaat. Bürgerrechte und Datenschutz würden dem Kampf gegen die Terroristen geopfert werden. Hysterie und Panik würden das Volk erfassen. Alle Politiker würden sich mit der Forderung nach "hartem" und "noch härteren Durchgreifen" profilieren wollen. An die Medien wollen wir lieber gar nicht denken.
Die Terrorgruppe gibt es, die Toten, Verletzten und Milliardenschäden auch. Nur passieren tut - relativ - wenig. Es herrscht viel Gelassenheit, Verständnis und Großzügigkeit. Warum? Die Gruppe ist zu groß, sie ist stark in der Bevölkerung verankert, fast jede(r) ist ab und zu Mitglied in der Gruppe und ihre Bewaffnung ist des modernen Menschen liebstes Kind, das Auto. Es sind die Raser.


So ein Glück!
Sie jagen mit 70 durch ausgewiesene Wohngebiete. Sie fahren mitten in Ortsgebieten Kinder tot. Sie machen nächtliche Fahrten über Land zum russischen Roulette. Sie reduzieren kriminell Sicherheitsabstände und attackieren zusätzlich mit Hupe und Aufblendlicht die wenigen Autofahrer, die sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten. Sie jagen durch Nebelwände und Platzregen, als könnte nie etwas Unvorhergesehenes auftauchen. Sie halten unnötige Störungen durch radierende Reifen und aufheulene Motoren für problemlos.
Ja, es wird kontrolliert und gestraft. Unterm Strich muss trotzdem negativ bilanziert werden. Die Maßnahmen reichen nicht aus. Man lässt sie weiterrasen.
Die Terrorgruppe hat auch ihre Schreibtischtäter. Die Geschwindigkeitsdesigner der einschlägigen Industrie etwa. Oder jene, die abhängige LKW- oder Busfahrer bis über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinaus auf die Straßen schicken.
Zehntausende brave Österreicher mutieren, kaum dass sie sich hinters Steuer geklemmt haben, innerhalb weniger Minuten zu primitiven Gewalttätern. Ein ÖAMTC-Vertreter meinte in der Standard-Serie zum "Kampfplatz Straße", die Gruppe der "unverbesserlichen Fahrer" betrage "rund drei Prozent", und denen sei ein Punkteführerschein "genauso egal wie Tempolimit oder Promillegrenzen" Gegen drei Prozent Straßenterroristen kann man halt nichts machen. So ein Pech! Wievielen Autos sind sie heute begegnet? Erst 97? So ein Glück!


Kein Unrechtsbewusstsein
Die drei Prozent sind vielleicht die Spitze des Eisbergs. Eine Moral des Autofahrens fehlt in weiten Kreisen. Die Raser bewegen sich in der Bevölkerung wie die Fische im Wasser. Es fehlt ein Unrechtsbewusstsein bei der besoffenen Jagd durch nächtliche Dörfer, ebenso wie bei der Hetze ganz wichtiger Herren zu ganz wichtigen Terminen.
Moral entwickelt sich entlang von gesellschaftlichen Normen, Werthaltungen und Gesetzen, die freilich auch exekutiert werden müssen. Da helfen keine Ausreden. Die Politik ist nicht alleine verantwortlich für eine gesellschaftliche Wertehaltung, aber ganz wesentlich mitverantwortlich.
Dass es in Österreich immer noch keinen Punkteführerschein gibt, dass vorgestrige Lobbyisten mit Argumenten wie "drei Prozent" oder "Autofahrer verkrampfen sich" immer wieder durchkommen, ist nur ein Beispiel für eine lange Reihe fahrlässiger Versäumisse.
Das blutige Pfingstgemetzel auf Österreichs Straßen hat eine überfällige Diskussion entfacht. Sie darf jetzt nicht wieder einschlafen.